„Du kommst mal hier hinter mich“, sagt Cilli zu mir, ungefähr 30 Minuten nach unserem Start am Mittwoch morgen im Lärchenwald oberhalb von Selva im Puschlav. Damit ist meine Position für den Rest unserer Tour klar in unserem kleinen Lindwurm, der sich durch die Berge und Täler südlich vom Bernina-Massiv schlängeln wird. Cilli hat mit dem erfahrenen Blick aus jahrelang geführten Wanderungen direkt erkannt, dass ich das schwächste Glied bin in unserer sechsköpfigen Gruppe. Ab jetzt schnaufe ich hinter ihr die Pässe hoch und präge mir in gleichförmigem Tritt ein, wie ihre Schuhe aussehen, denn dafür ist ausreichend Zeit bei zwei bis vier Stunden Anstieg bis zur jeweiligen Passhöhe. Sie sind schwarz mit ein bisschen Rot und Türkis.
Johannes, Daniel und Christoph kennen Cilli und Günter schon, sie haben sich freiwillig erneut dafür entschieden, mit ihnen die Schönheit der Bergwelt zu erarbeiten. Eine Genusstour wird es nicht, wenn gleichwohl die Genüsse nicht zu kurz kommen.

Unsere Route: Tag 1: Kurzer Marsch am Nachmittag vom Poschiavo Tal zur Alpe Selva; dies bot Gelegenheit einer Anfahrt mit dem Bernina Express von Chur nach Poschiavo am Vortag.
Tag 2: Alpe Selva über den Passo da Canfinal zum Rifugio Bignami am Stausee Bacino di Alpe Gera
Tag 3: Rifugio Bignami – Alpe Foppa – Geheimabkürzung nach Art der Cilli – oberhalb Lago Palu – Rifugio Longoni (anders als geplant und viel länger, da im Gebirge Brücken über einen Bergbach fehlen)
Tag 4: Rifugio Longoni – Alpe Fora – Passo del Muretto – Maloja/Salecina
Die Highlights: Die eigenen Grenzen tatsächlich mal persönlich kennen lernen. Bereits am ersten Tag wird mir klar, als die Zeit bis zum Passo da Canfinal sich dehnt wie Kaugummi, während Atmung und Kraft nachlassen, dass ich vielleicht ein bisschen mehr Ausdauer hätte trainieren sollen. Der Schweiß rinnt wie blöd, die wunderbare Landschaft und das gute Wetter, lediglich getrübt von einem kleinen Schauer am Pass und einigen Tropfen vorher, kann ich kaum genießen. Auf dem Pass kann man – oh schöner Schein – das Rifugio bereits am gegenüber liegenden Hang in der Sonne liegen sehen. Was der verschwitzte Wanderer zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Nach der idyllisch gelegenen Alpe mit bimmelnden Ziegen oberhalb des Stausees erwarten uns mehrere reißende Bäche, an deren Überquerung wir scheitern. Johannes steht einmal mit beiden Beinen bis zur Hüfte im Wasser. Günters Plan zur „wilden“ Überquerung ohne Brücke mit menschlicher Kette verwerfen wir. Also wieder zurück, hoch, weiter, zurück, ganz um den See. Abends um kurz nach sieben nach rund 11 Stunden unterwegs keuche ich hinter Cilli die letzten Meter zum Rifugio hoch. Geschafft – auch Johannes, Daniel und Christoph machen den Eindruck, als ob es ihnen für heute gereicht hat. Die erste Limo ist die beste der Welt. Das Bier danach ebenso.
Die Unterkünfte und das Essen: Da wir auf der italienischen Seite der Alpen unterwegs sind, erwarten uns abends typisch italienisch-rustikale Menüs, von Pasta über Polenta, Schnitzel, Fisch, Dessert. Immer lecker und bringt Salz, Vitamine und Kohlenhydrate gleichzeitig: Die Suppe, einmal Minestrone, einmal Graupen. Molto buono! Was ganz Besonderes: In Salecina kochen die Bewohner selbst und das nicht schlecht. Wir haben das Glück und kommen in den Genuss von Pizzoccheri am letzten Abend, die sich besonders gut mit Rotwein vertragen.
Die Natur: Geradezu explosiv bieten sich die Wiesen auf dieser Seite der Alpen dar: Bunt und vielfältig die Blütenpracht, die einen den ganzen Tag, egal auf welcher Höhe, begleitet und erfreut. Dazwischen wunderbare Lärchenwälder (Achtung: der Naturlaie kann Arven von Lärchen nicht unterscheiden), nur auf die nicht enden wollenden Blockhalden an Tag zwei hätten wir alle verzichten können.
Unser Team: Die Latte lag hoch, aber jederzeit haben Cilli und Günter in ruhiger wertschätzender Art den Blick dafür gehabt, was der jeweilige Wanderer gerade braucht oder kann. Besonders an Tag 3 führt uns Cilli, mit entspanntem Schritt im Dickicht, Stöcke links unter Arm, Handy mit GPS in einer, den Finger der anderen Hand auf dem Display kilometerweit über einen nicht bezeichneten Pfad einschließlich ein paar seilversicherten Passagen sicher zum nächsten Abschnitt. Ich glaube, wir sind nicht einen Meter in die falsche Richtung gelaufen. Und Günter gibt an Tag 4 die Pace vor zum Passo di Muretto und in einem kleinen Schlussspurt nach Salecina und zieht die anderen mit.
Der Sinneswandel: An Tag 2 und 3 ist mir sonnenklar: Das machst Du nicht nochmal. Am Tag 4 abends denke ich mir: Warum eigentlich nicht nochmal so eine ein bisschen anstrengende aber wunderschöne Tour?
Text und Bilder: Reinhart Enßlin
